Wer begnadigt wird, wird von seiner Schuld freigesprochen. Gnade ist damit ein unverdientes Geschenk. Die befreiende Aussage der Reformation war: Sola gratia = Allein aus Gnade! Wir müssen keine Angst haben vor dem Versagen, vor der -> Hölle oder gar vor Gott. Der grosse Gott hat allein aus Gnade entschieden, uns zu -> vergeben, uns anzunehmen – kurz – uns zu lieben. ER hat sich für uns entschieden, nicht weil wir besonders gut wären, sondern weil ER so gnädig ist (vgl. NT, Johannes 15,16; Epheser 2,8; 2. Timotheus 1,9b). Philip Yancey hat in seinem Buch „Gnade ist nicht nur ein Wort“ eine provokative und dabei extrem befreiende Definition von Gottes Gnade aufgestellt: „Gnade heisst, es gibt nichts, was wir tun könnten, damit uns Gott mehr liebt. … Gnade heisst auch, dass es nichts gibt, was wir tun könnten, damit Gott uns weniger liebt.“ (Seite 64). Es ist schon fast unverständlich, wie Jesus mit Gnade auf gescheiterte Menschen reagieren konnte (NT, Johannes 8,1-11; Lukas 23, 32-43). Er zeigt dabei die Fähigkeit, zwischen der Tat (-> Sünde) und dem Menschen (Sünder) zu unterscheiden. -> Sünde ist schlecht und muss gesühnt werden (-> Stellvertretender Opfertod / Blut des Lammes). Gnade aber verurteilt nicht, sondern gibt dem Sünder eine neue Chance. Mit Gnade hat Gott seit jeher auf den Beziehungsbruch der Menschen ihm gegenüber reagiert. Zu Beginn der Menschheitsgeschichte war Gottes Antwort auf die Bosheit der Menschen und ihre Untreue ihm gegenüber zwar die Sintflut (AT, 1. Mose Kap. 6+7). Interessant an der Geschichte ist aber die Frage, wer sich nach diesem Ereignis verändert hat. Es sind nicht die Menschen (AT, 1. Mose 11,1-4), sondern Gott selbst! (AT, 1. Mose 8,21). Die -> Sünde steht auch heute noch zwischen uns und Gott. Aber Gott hat sich entschieden, alle unsere Schuld auf sich selbst zu nehmen und uns freizusprechen (NT, Römer 3,24-26; Römer 5,1.2.6-10; NT, Galater 2,16; siehe auch -> Stellvertretender Opfertod / Blut des Lammes; -> Evangelium).

Das Gleichnis vom „barmherzigen Samariter“ fordert uns auf, gerade die zu lieben, gegen welche wir Vorurteile haben. Eine Vorbemerkung: Die Juden sollten sich nicht durch Heirat mit anderen Völkern mischen. Samariter waren ein Mischvolk aus Juden und Ausländern und pflegten deshalb auch einen Mischglauben. Darum waren sie bei den „reinen“ Juden verhasst. Zu Beginn des Gleichnisses steht Gottes Gebot: Liebe deinen Nächsten! Ein jüdischer Theologe will dieses Gebot erklärt haben. Aus dem Gleichnis folgert sich, dass der Samariter der Nächste des Überfallenen ist. Somit sieht sich der jüdische Theologe, der nicht einmal das Wort „Samariter“ in den Mund nehmen will (vgl. NT, Lukas 10,37a) herausgefordert, die Samariter zu lieben!
Gottes Gnade unterscheidet nicht zwischen guten und bösen Menschen. Wie schnell geht es dagegen bei mir, dass Gedanken der Kritik an Anderen aufkommen. Dabei will ich doch ein ->Zeugnis der bedingungslosen Annahme Gottes sein. „Gott, verändere mich durch deine Gnade!“ (vgl. NT, 2. Thessalonicher 2,16.17).

*** Exkurs: Gott und Gewalt

Wer die Bibel liest, wird früher oder später über Stellen stolpern, welche nicht in unser heutiges Bild vom „lieben Gott“ passen. Wie kann es Gott z.B. in den Sinn kommen, den Befehl zur Ausrottung einer ganzen Stadt (inkl. Frauen und Kinder) zu geben (Vgl. AT, Josua Kapitel 6 v.a. Vers 17). Diese scheinbaren Widersprüche können wir nicht einfach ignorieren oder aus der Welt schaffen. Folgende Ansätze können aber helfen, sich darüber eine eigene Meinung zu bilden.

Ansatz 1) Gott ist unabhängig

Die Bibel beginnt mit der Schöpfungsgeschichte. Gott erschafft die die Welt, das Meer, das Land, die Pflanzen, die Tiere – und die Menschen (Vgl. AT, 1. Mose Kapitel 1 und 2). Sollte Gott mit dem, was er geschaffen hat nicht so umgehen können, wie ER es für richtig hält? Dieser Gedanke findet sich im Alten Testament beim Propheten Jeremia (AT, Jer 18,1-17).

Ansatz 2) Gott wählt das „kleinere Übel“

Die oben erwähnte Stadt war Jericho und lag im Land Kanaan, welches Gott dem Abraham versprochen hatte (AT, 1. Mose 15,18). Mehrmals wird in den Mosebüchern darauf hingewiesen, dass sich die Israeliten nicht mit der Bevölkerung dieses Landes einlassen soll. Der Grund liegt darin, dass diese Völker Israel zum -> Götzendienst verführen könnten. Die bewusste Abwendung von Gott hat letztlich Trennung von ihm zur Folge (vgl. -> Gericht, -> Hölle). So könnte man argumentieren, dass Gott zum Schutz seines Volkes, die Völker Kanaans ausrotten liess. Dies umso mehr, als dass Jesus, der die Rettung für die ganze Welt ist, aus dem Volk Israel stammte (vgl. AT, Jes 9, 5.6; NT, Joh 4,22.25+26; Joh 19,19-22).

Ansatz 3) Gott richtet Völker nach ihren Taten

Erweitert man das Blickfeld über den Bericht der Zerstörung Jerichos auf die Vorgeschichte, stösst man auf interessante Zusammenhänge. Der Zeitraum von der Landzusage Gottes an Abraham, bis zur tatsächlichen Eroberung des Landes unter Josua beträgt mehr als 400 Jahre. Gott gibt dabei eine seltsam anmutende Begründung für diese „Verzögerung“ an: Das Mass der -> Sünden der Amoriter (ein Volk im Land Kanaan) ist noch nicht voll! (Vgl. AT, 1.Mose 15.13-16) Gott schenkt also den Völkern im Land Kanaan 400 Jahre Bedenk- bzw. Gnadenzeit (-> Gnade). Zeit genug, um sich zu besinnen, den wahren Gott zu suchen und zu finden. Aber was waren denn die Sünden, die Gott hier anspricht? Zusammenfassend kann man sagen, dass es ihr -> Götzendienst war. Was heisst das konkret? Der Götzenkult der kanaanitischen Völker war menschenverachtend und grausam. Er beinhaltete unter anderem den sexuellen Verkehr mit Tieren, sowie das Opfern (verbrennen) von Kindern (Vgl. 3. Mose 18, 1-30; zu Vers 21 vgl. Jeremia 7,31). Immer und immer wieder hatte Gott sein Volk davor gewarnt, die schändlichen Bräuche der kanaanitischen Völker zu übernehmen (Vgl. z.B. AT, 5. Mose 12,30; 18,9; 20,18). Einerseits wollte Gott durch die Ausrottung dieser Völker vermeiden, dass sein Volk die gleichen Gräueltaten begeht und die entsprechenden physischen und psychischen Folgeschäden erleidet. Andererseits wollte er sie auch vor den oben genannten Konsequenzen der Abkehr von ihm bewahren. Doch wie schon zur Zeit der Wüstenwanderung (Vgl. AT 2. Mose 32,1-35) wurden leider die Israeliten ihrem Gott immer wieder untreu, wie man auch beispielhaft im 10. Kapitel des Richter-Buchs (Vgl. AT, Richter 10,6-16) nachlesen kann. Das führte dazu, dass Gott mit seinem eigenen Volk in ähnlicher Weise verfahren „musste“, wie mit den Völkern, die er vor ihnen vertrieb… Nachdem die Könige Israels (bzw. Judas) sich über Generationen hinweg immer wieder von Gott abgewendet hatten, schickte Gott die Assyrer und später die Babylonier (Chaldäer), um Israel, bzw. Juda zu erobern und das Volk Gottes in Gefangenschaft abzuführen (Vgl. AT, die Bücher „Könige“ und „Chronik“). Aber sogar dort im Exil hielt Gott die Beziehung zu seinem Volk aufrecht, was wir v.a. in den Büchern der -> Propheten Jesaja und Jeremia aber auch bei den Propheten Daniel, Nehemia und Esra nachlesen können.
Rund 580 Jahre nach der babylonischen Gefangenschaft war es wieder Gott, der auf eine ganz neue Art Kontakt zu seinen Menschen aufnahm: Jesus Christus kam auf die Welt. Er predigte einerseits von der Guten Botschaft (-> Evangelium), aber auch vom -> Gericht an dem Tag, an dem er wiederkommen würde. Die ersten Christen lebten in der Erwartung, dass sie diesen Tag noch erleben würden. Einige wurden sogar ungeduldig, sodass der -> Apostel Petrus sie in einem Brief zurechtweisen musste: Jesus verzögert nicht sein Versprechen, sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren geht, sondern dass jeder umkehrt und zu Gott findet. (Vgl. NT, 2. Petrus 3,9). Diese erneute Gnadenzeit dauert nun schon mehr als 2000 Jahre!

Yancey, Philip; „Gnade ist mehr als ein Wort“; S. 64; R.Brockhaus Verlag, Wuppertal, 2007